«Leider läuft es nicht immer so, wie man sich das wünschen würde»
Ein Gespräch mit der Abteilungsleiterin Andrea Ruh Woodtli
In der Abteilung der Beratung von Betroffenen von Verkehrsunfällen gab es in der letzten Zeit einige Neuerungen. So wurde das Team der Helpline auf drei Personen erweitert und ein neues Beratungskonzept ausgearbeitet. Besondere Aufmerksamkeit erhielt auch die neue Helpline-Nummer in der Romandie. Und eine Tendenz der letzten Jahre bestätigt sich: Immer mehr Betroffene eines Verkehrsunfalls suchen Unterstützung bei RoadCross.
Juni 2024 – Beitrag aus dem Jahresbericht 2023
Das Beratungsteam von RoadCross Schweiz (v.l.n.r.):
Helene Richner, Andrea Ruh Woodtli, Marie Gehrer Kontomisios
Liebe Andrea, in den letzten Monaten hat sich in der Beratung einiges getan. Wie blickt ihr als Team auf eine Zeit mit vielen Neuerungen zurück
In der Tat hat sich einiges verändert. Unser Blick zurück fällt jedoch durchwegs positiv aus. Die Aufstockung des BeratungsTeams auf drei Personen hat dazu geführt, dass wir Aufgaben und Projekte speditiver erledigen konnten.
Kannst du dafür ein Beispiel nennen?
Zum Beispiel konnten wir uns mehr Zeit nehmen um unser Netzwerk zu pflegen und auszubauen. Damit sind neben anderen Fachstellen und Organisationen, mit welchen wir zum Teil eng zusammenarbeiten, auch unsere Vertrauensanwältinnen und Vertrauensanwälte gemeint. Wir selber besitzen zwar ein versicherungsrechtliches Knowhow, jedoch keine juristische Ausbildung. Daher profitieren wir massgeblich von deren Fachexpertise.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Anwältinnen und Anwälten aus? Arbeiten diese ehrenamtlich für RoadCross?
Die Anwältinnen und Anwälte werden von RoadCross für ihre Unterstützung nicht entgolten. Hingegen kommt es vor, dass sie von Klienten ein Mandat als Rechtsbeistand für die Abwicklung der versicherungsrechtlichen Belange erhalten. Die Motivation, mit RoadCross zusammenzuarbeiten, ist jedoch nie wirtschaftlich begründet. Vielmehr bringen alle ein grosses Interesse und Engagement mit, Betroffene von Verkehrsunfällen tatkräftig zu unterstützen. Die Anwältinnen und Anwälte setzen sich sehr dafür ein, dass die Verkehrsopfer auf juristischer Ebene zu ihrem Recht kommen. Dies zeigt sich in der täglichen Zusammenarbeit und ist sehr wichtig für uns.
Man möchte davon ausgehen, dass alle Opfer eines Verkehrsunfalls automatisch erhalten, was ihnen zusteht. Ist dies nicht der Fall?
Nein, leider läuft es nicht immer so, wie man sich das wünschen würde und ausserdem ist unser Rechtssystem so angelegt, dass Unwissenheit vor Nachteilen nicht schützt. Dies bedeutet, dass sich ein Geschädigter selbst darum kümmern muss, zu seinem Recht zu kommen und die ihm versicherungsrechtlich zustehenden Leistungen zu erhalten. Daher kann in einer akuten Überforderungssituation, wie es bei einem Unfall oft der Fall ist, so einiges schiefgehen.
Kannst du uns hierzu Beispiele nennen? Worauf ist besonders zu achten?
Zentral ist zum Beispiel die Einhaltung von Fristen und auch die Frage, ob man einen Strafantrag stellt. Oft ist den Betroffenen nicht bewusst, was ihnen von Rechtes wegen zustehen würde. Und dann sind verschiedene Parteien involviert, die Eigeninteressen verfolgen. Daher ist es ratsam, dass man bei Unklarheiten nach einem Unfall mit uns Kontakt aufnimmt. Je früher, desto besser.
Was haben die Menschen erlebt, welche sich bei RoadCross melden?
Das ist sehr unterschiedlich, denn jeder Verkehrsunfall ist anders und hat seine eigene Geschichte. Es gibt Fälle, die sind dramatisch und das Leben der Betroffenen wird komplett auf den Kopf gestellt. Dann geht es darum, die betroffene Person zu unterstützen bei der Rückkehr in ein Leben, welches nicht mehr gleich ist wie zuvor. Ganz oft helfen wir, indem wir die anstehenden Fragen beantworten und aufzeigen, welche Schritte in welcher Reihenfolge notwendig sind. Dies gibt Orientierung und damit auch Sicherheit. Eine besondere Tendenz hinsichtlich Thematik konnten wir in der letzten Zeit feststellen.
Ein Verkehrsunfall kann belasten. RoadCross bietet kostenlose Unterstützung.
Und diese Tendenz war?
Wir hatten eine Häufung von Fällen, bei welchen der Unfallhergang nicht mehr rekonstruiert werden konnte. Teilweise handelte es sich um Selbstunfälle. Jedoch gab es auch Unfallereignisse, bei denen mehrere Personen vor Ort waren, aufgrund der unterschiedlichen Beschreibungen ergab sich jedoch keine einheitliche Version. Nicht zu wissen, wie es zum Unfall kam, kann auf verschiedenen Ebenen problematisch werden.
Inwiefern problematisch?
Ist der Unfallhergang nicht klar, hat dies wegen der Verschuldensfrage immer auch Einfluss auf die Versicherungsleistungen. Und dies wiederum kann sich negativ auf die Finanzen einer Person oder einer ganzen Familie auswirken. Keine Erklärung zu haben, wer oder was den Unfall verursacht hat, kann zudem psychisch sehr belastend sein. Mutmassungen, Selbstzweifel und die Möglichkeit eines involvierten Fahrerflüchtigen können den Unfallbetroffenen sehr zusetzen. Verlaufen die Ermittlungen der Polizei im Sande oder werden wegen unverhältnismässigem Aufwand eingestellt, so findet aus Sicht der Betroffenen keine Würdigung des für sie einschneidenden Ereignisses statt. Das unter Umständen traumatische Erlebnis kann dann durch die offenen Fragen nicht verarbeitet werden. Die Selbstzweifel und die Unsicherheit, die zurückbleiben, nagen am Selbstvertrauen. Dies kann den Heilungsverlauf negativ beinflussen und macht es den Unfallbetroffenen schwer, wieder nach vorne zu blicken und das Belastende hinter sich zu lassen.
Betroffene sollten nicht zu lange zögern!
Was empfehlt ihr den Betroffenen, welche Mühe mit der Verarbeitung eines Unfalls haben?
In solchen Fällen raten wir, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Es gibt beispielweise spezialisierte Fachkräfte zum Thema Traumatherapie. Je nach Situation und Bedürfnis können auch Selbsthilfe oder Trauergruppen eine gute Anlaufstelle sein. Wir unterstützen Betroffene herauszufinden, welche Form der Unterstützung für sie gerade am hilfreichsten wäre.
Apropos verarbeiten. Ihr befasst euch den ganzen Tag mit Verkehrsunfällen! Wie geht ihr mit belastenden Geschichten um?
Natürlich gibt es Schicksale, die einem sehr nahe gehen. Als professionelle Beraterin ist es aber nötig, passende Strategien zur Abgrenzung zu besitzen. Ausserdem haben wir die Möglichkeit, uns im Beratungsteam auszutauschen und Tipps zu holen. Abgesehen davon, gibt es in unserer Beratung auch sehr viele schöne und bereichernde Momente. Wir erhalten viele positive Feedbacks zu unserer Arbeit. Und ganz besonders freuen wir uns natürlich über Rückmeldungen von Betroffenen, denen es nach einem einschneidenden Unfallereignis wieder besser geht, die wieder Mut fassen und optimistisch nach vorne blicken. Solche Rückmeldungen sind unglaublich motivierend und bestärken uns darin, noch mehr Menschen unsere Beratung anbieten zu können.
Was habt ihr unternommen, um noch mehr Menschen eure Unterstützung anzubieten?
RoadCross ist eine nationale Organisation, wobei aber deutlich mehr Beratungsgespräche in der Deutschschweiz als in der Romandie stattfanden. Dies wollen wir ändern, weshalb wir alle Unterlagen und auch die Webseite auf Französisch erstellt und eine eigene Telefonnummer für die Romandie aktiviert haben. Dies alles hat seine Wirkung nicht verfehlt. Wir erhalten seither bedeutend mehr Anfragen von Französisch sprechenden Personen.
Es wurde auch das Team von zwei auf drei Personen aufgestockt. Inwiefern hat sich dies auf die Beratungen ausgewirkt?
Auf die Beratungen bezogen ist es sehr hilfreich, dass wir nun im Team unsere Erfahrungen austauschen können. Beim Austausch geht es um inhaltliche und fallbezogene Problemstellungen, aber auch um die Arbeitsprozesse im Allgemeinen. Im Austausch haben wir so ein Beratungskonzept erstellt, an welchem wir uns auch in emotionalen Momenten orientieren können. Mit dem Beratungskonzept stellen wir sicher, dass allen Betroffenen eine einheitliche und faire Beratung angeboten wird und wir als Team effektiv und zielgerichtet arbeiten.
Wie haben sich die Beratungen dadurch verändert?
Der Inhalt der Beratungen hat sich dadurch eigentlich nicht verändert, sondern mehr die Art und Weise. So versuchen wir die Betroffenen vermehrt telefonisch und online in VideoCalls zu unterstützen. Mit den verschiedenen Kanälen können wir besser auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Art der Beratungen eingehen. Es hat sich gezeigt, dass dies sehr geschätzt wird.
Was würdet ihr euch als Team für die Beratungen in der Zukunft wünschen?
Ein Verkehrsunfall ist praktisch immer ein einschneidendes Ereignis, das belastend ist und zudem finanzielle sowie rechtliche Konsequenzen mit sich bringen kann. Wir beraten jeden Unfallbetroffenen engagiert und unentgeltlich. Daher würden wir uns für jeden Betroffenen wünschen, dass er zu uns findet und professionelle Unterstützung erhält. In einigen Kantonen werden wir auf der Rückseite des Informationsblattes, das die Polizei den Unfallbeteiligten abgibt, aufgeführt. Aus diesen Kantonen erhalten wir dann auch bedeutend mehr Beratungsanfragen. Da wir in vielen Kantonen auf dem betreffenden Informationsblatt aber nicht erwähnt werden, können viele Betroffene auch nicht von unserem Service profitieren. Das bedauere ich sehr. Es wäre schön und fair, wenn schweizweit alle Personen mit Unterstützungsbedürfnis an der Unfallstelle auf uns aufmerksam gemacht würden.